Mittwoch, 10. Oktober 2007

Tempo macht glücklich

Tatzeit 17:48, Tatort S12

Schlechte Zeit eine S-Bahn zu besteigen. Ältere Damen kommen ausgeruht aus der „Erfahrungsgruppe 70Plus“ und treffen am Bahnsteig vehement auf müde gearbeitete Pendler. Die Tore zu den blau-gelb schöngefärbten Viehtransportern öffnen sich und die Rentnerin trägt den ersten Sieg des Tages davon. Von hinten wird ohne Rücksicht auf die Privatsphäre des Vordermannes mit allem geschoben was zur Verfügung steht. Selbst diejenigen jungen Frauen, die im Ausgang alle flirtwilligen Männer mit Blicken, die töten können auch nur am Versuch hindern daran zu denken sie anzusprechen, reiben ihre Brüste an Männern, die sie noch nicht mal gefragt haben, ob man sich nicht irgendwoher kenne.

Dennoch den Einstieg geschafft, den notorischen Mittelgang-Sitzern getrotzt und beim gekonnten Übersteiger auf den Fensterplatz einen Zeh nur so leicht ramponiert, dass sich keine verbale Auseinandersetzung ergeben hat. Mit der nicht allzu philosophischen Frage, ob es sich bei den Mittelgang-Sitzern um die gleichen Menschen handelt, die notorisch den linken Fahrsteifen auf der Autobahn für sich beanspruchen beschäftigt, wird die Wunschlektüre hervorgekramt. Nach zwei, drei Zeilen ein störendes und vermeidbares menschliches Geräusch: Die Nase des Gegenübers ist wohl etwas erkältet und dieser möchte diesen unglücklichen Umstand seinen Mitmenschen unbedingt mitteilen. Die zwangsläufig austretenden Flüssigkeiten werden unter Einsatz der Finger und durch heftiges und lautstarkes Wiedereinatmen von Luft und Flüssigkeit wieder an ihren Herkunftsort befördert. Was will der arme kranke Mann uns mitteilen? Hat er vielleicht kein Taschentuch? Freut er sich gar, wenn ich ihm eines anbiete? Kurz überlegt und dem leidenden Mitmenschen nach einem weiteren Gerotze unverblümt ins Gesicht geschaut, komme ich zum Schluss, dass sich dieser durch seine laufende Nase rein gar nicht gestört fühlt und unterlasse die Hilfestellung.

Der Zug fährt los und nach kurzer Zeit ein nächstes Schniefen, meine Hand greift ohne einen aktiven Befehl vom Hirn bekommen zu haben automatisch in die für chronische Pendler absolut obligate Umhängetasche und befördert eine kleine, schwarze Ego-Disko heraus. Die Ohren so zugestöpselt und mit Musik berieselt sollte die humane Störfrequenz behoben sein, so meint der Berieselte blauäugig, und dem Lesegenuss steht nichts mehr im Wege. Falsch gedacht, denn die lautstärkenbegrenzte Leistung, lässt unerwartet die notwendige Buchstaben-Konzentration nicht zu. Dieser Umstand verleitet mich dazu, den Spiess umzudrehen und ich beginne damit mir einen Sport daraus zu machen, die Abstände zwischen den Schnieffern in einer relevanten Messung festzuhalten. Der neue Pendler-Schweizerrekord belief sich demnach auf sechs Sekunden zwischen zwei Hochziehern und dass lässt doch auf relativ gute konditionelle Rahmenbedingungen des Nasenträgers schliessen.

Kurz vor der Erlösung für alle im Abteil sitzenden Mitpendlern, sprich kurz vor der Endstation, wurde die Situation richtig dramatisch: Der Erkältungsgeplagte bemerkt nach einer halben Stunde tatsächlich, dass er immer noch auf der Mittelspur fährt, öffnet seine Marken-Umhängetasche und befördert in grossem Tempo ein gleichnamiges Papiertaschentuch-Päcklein hervor und schneutzt sich damit ordentlich und wider erwarten sehr gepflegt die Nase. Alle Mithörer kommen darauf hin natürlich nicht darum herum die Lautstärke Ihrer Musikplayer zeitgleich runter zu drehen und siehe da für die letzten beiden Minuten funktioniert die Nase des Sitznachbars ganz einwand- und geräuschfrei. Er lächelt ob des stark verbesserten Zustandes seelig vor sich hin und macht nun einen glücklichen Eindruck.


Und mir stellt sich die Frage, wie englische Forscher zum Schluss kamen, dass pendeln unglücklich macht.

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